Die 21 Filme, die Friedrich Wilhelm Murnau zwischen 1919, kurz nach Beendigung des Ersten Weltkrieges, und seinem Tod 1931 drehte, spiegeln auch in ihren thematischen Schwerpunkten ihre Entstehungszeit. Die nicht immer „goldenen“ Zwanzigerjahre bedeuteten gerade für Künstler als Seismographen gesellschaftlicher Befindlichkeiten und Zeitgeistströmungen eine Zeit des umfassenden Umbruchs mit ungewissem Ausgang.
Zugleich bot sich mit der Entwicklung, den technischen Innovationen und der zunehmenden Popularität des noch neuen Mediums Film die Chance, diese überwiegend neuen Themen auch in noch nie erlebter Weise umzusetzen und damit eine neue Sehweise und Bildsprache zu schaffen. Murnau hatte dabei das Glück und das Talent, eine Reihe von ganz unterschiedlichen, aber immer herausragenden Fachleuten - Drehbuchschreiber, Kameraleute, Filmarchitekten – zu finden und zu motivieren, gemeinsam neue künstlerische Wege auszuprobieren und dabei Außergewöhnliches zu kreieren.
Ihre gemeinsame neuartige Filmsprache – u. a. die zunehmend „entfesselte“ Kamera, die unterschiedliche subjektive Perspektiven übernimmt, der kunstvolle, symbolreiche Umgang mit Licht und Schatten, die raffinierte Raumgestaltung und überhaupt die Mise en Scène, die spannungsreiche Inszenierung der Handlung – beeinflusst ihre Nachfolger bis heute. Insbesondere haben die Evergreen-Genres Horrorund Vampirfilm ihren Ursprung in Murnaus Nosferatu.
Für den Letzten Mann erfand Murnaus Team u. a. die erst vielfach kopierte und später als selbstverständlich angesehene subjektive Kameraführung. Sie ermöglicht es ohne Worte, die emotionalen Befindlichkeiten der Personen zu interpretieren und diesen Blick in die menschliche Seele als eigenständiges gestalterisches Element einzusetzen. Was wir als Zuschauer dort entdecken, sind sehr oft Variationen von Angst und Unsicherheit, einer Grundbefindlichkeit der Zwischenkriegszeit. Murnau überträgt dieses für ihn aktuelle Gefühl auch auf frühere Zeiten: In die Biedermeierepoche von Nosferatu, in das Mittelalter von Faust und in die Epoche des Alten Fritz in Tartüff.
Gerade Nosferatu traf den Nerv der Zeit, indem er die subjektive Angst in eindrucksvolle neue Bilder umsetzte. Murnau war wohl der erste, der nicht nur etwas Furchteinflößendes zeigte, sondern mit der Art der Darstellung von Max Schreck (!) selbst die Zuschauer in Angst und Schrecken stürzte – wohligerweise nur im Kino! Der amerikanische Regisseur E. Elias Merhiges führte diese These im Jahr 2000 mit Shadow of the Vampire ins Extreme, indem er suggerierte, Schreck sei selbst ein Vampir gewesen, der mit dem Blut der Crew bezahlt wurde. Für Merhiges stellte diese Nosferatu-Variante auch eine Parabel des Filmemachens als solches dar, welches ausbeuterische, sprich vampirische Züge zeige.
Parallel zu den Einblicken der subjektiven Kamera und in den etwas statischer gefilmten frühen Filmen verwendete Murnau öfters Landschaften, manchmal auch Räumlichkeiten als sichtbaren Ausdruck seelischer Schwingungen. Besonders deutlich wird das auf Hutterers Reise zu Orloks Schloss in Nosferatu. Die Beklemmung des jungen Mannes steigt schon beim Blick auf Hügel, Felsen und Wald, zusätzlich signalisieren auch Tiere die Botschaft vom Fressen und Gefressenwerden in der wilden Natur. Die scheuenden Pferde, später eine Venusfliegenfalle, die sich über ihrer Beute schließt, und eine Hyäne, die einen Werwolf darstellen soll, bereiten die Wirkung des Vampirs vor, der in diesem Zusammenhang als naturgegebenes, todbringendes Phänomen erscheint, dem der Mensch hilflos ausgeliefert ist.
Eine Atmosphäre der Angst und latenten Bedrohung schuf Murnau bereits mit Schloss Vogelöd, einem düsteren Drama um Mord, belastende Schuld und Selbstmord, in der der Herbst vor den Fenstern die zerrissenen Seelen reflektiert. Im Brennenden Acker wird eine Petroleumquelle zum selbstzerstörerischen Objekt der Begierde eines jungen Bauern. In Faust schrumpft die Landschaft dank spektakulärer Trickaufnahmen gar – aus der Perspektive des überdimensionalen Mephistos – zu einer Miniaturwelt, die mit einer Geste des Dämons vom schwarzen Tod fast vernichtet wird.
Zwischen den Weltkriegen verknüpfte sich die Erinnerung an den vergangenen Horror offenbar mit der Vorahnung künftigen Schreckens. Sowohl Nosferatu wie auch Mephisto, die beide neben anderem Unglück die Pest mitbringen, sind auch schillernde Verführer, die zunächst wie vielversprechende Problemlöser auftreten. Auch mysteriöse okkulte Mächte werden in dieser unsicheren Zeit und den entsprechenden Filmwelten gern zu Rate gezogen. Ebenso unheilbringend inszeniert Murnau eine fundamentalistische, bigotte Religiosität, die im Zeichen des Kreuzes Gretchen ins Unglück stürzt und schließlich auf den Scheiterhaufen bringt. Tartüff benutzt den Glauben, um an das Vermögen von Orgon zu kommen und in Tabu ist es eine mysteriöse andere Religion, in deren Namen Hitu das junge Glück von Reri und Matahi zerstört.
Murnau, der diskrete Einzelgänger, zeigt neben den Verführern auch schon gehässigen Volksmengen, die sich schnell zusammenrotten, um Außenseiter zu verhöhnen: Im Letzten Mann kippt das nachbarliche Getratsche im Hinterhof schnell in bedrohliche Bosheit um, als die peinliche Degradierung des eitlen Portiers bekannt wird. Auch in Faust wird nonkonformes Verhalten wie im Fall von Gretchen nicht geduldet, Volkes Zorn schwillt beängstigend an. Getratscht wird auch im Dorf von Sunrise, aber da spielt noch Mitleid mit.
Die Großstadt, insbesondere das in den Zwanzigerjahren so verlockend glitzernde Berlin, ist eben nicht nur faszinierend mit ihren Hochhäusern, ihrem Lichtermeer und all den schnellen Fahrzeugen, sie birgt in ihrer anonymen Geschäftigkeit auch Einsamkeit, wie im Fall des Letzten Manns, und Unheil. In Sunrise ist es die namenlose „Frau aus der Stadt“, die als ganz reale Verführerin des eigentlich braven Bauern auftritt und ihre Wirtsleute aus dem kuscheligen Dorf ebenso verachtet wie die Ehefrau des Bauern. Doch in Amerika löst sich der Stadt-Land-Konflikt versöhnlich: Nach dem Mordversuch findet das Bauernpaar in der Stadt wieder zusammen und amüsiert sich dort einen Abend lang prächtig. Am Ende, nachdem der Mordplan fast doch noch Realität geworden wäre, ist die Dorfwelt wieder in Ordnung, buchstäblich geht die titelgebende Sonne über der Landschaft auf und das Paar sieht einer glücklichen gemeinsamen Zukunft entgegen.
Liebesglück ist in Murnaus gesamtem Werk allenfalls eine flüchtige Episode – und ein Dritter (zer)stört meist die Idylle. Murnau selbst, der ohnehin als Melancholiker galt, hatte ja auch nicht langfristig Glück in der Liebe: Sein erster ernsthafter Partner fiel im Krieg, der zweite entfloh einer als zu eng empfundene Beziehung bis nach Bali. Sehr schwermütig wirkt Murnaus früher Film mit dem programmatischen Titel Der Gang in die Nacht: Ein Arzt verlässt seine Verlobte wegen einer Tänzerin. Die verliebt sich aber in den blinden Maler, dem der Arzt sein Augenlicht wiedergibt. Für den Brennenden Acker lässt der Bösewicht zwei ihn liebende Frauen stehen, um aus rein materiellen Gründen eine dritte zu heiraten und am Ende allein zu bleiben. In Nosferatu ist es der Vampir, der die sonderbar distanzierte Ehe von Hutter und Ellen zerstört, indem er sie erst weitaus mehr fasziniert als ihr kindischer Mann und ihr dann leidenschaftlich das Blut aus den Adern saugt. Der Letzte Mann liebt sich offensichtlich nur selbst, allenfalls eine „Tante“ kümmert sich etwas um ihn. Der heuchlerische Tartüff umschmeichelt zwar die schlaue Elmire, lenkt aber die Liebe ihres dümmlichen Gatten mit seiner vermeintlichen Frömmigkeit völlig auf seine Person, um an dessen Geld zu gelangen. Das arme Gretchen verliebt sich gar in einen uralten Gelehrten, der nur dank eines Teufelspaktes zum begehrenswerten jungen Mann geworden ist – den ihr Mephisto auch schnell wieder entreißt. In dieser Konstellation kann das Happy End nur ein gemeinsamer Tod plus Himmelfahrt sein. Matahi schließlich, der Perlenfischer aus Tabu, verliert seine geliebte Reri an einen Häuptling, der sie als „Heilige Jungfrau“ für sich beansprucht, und stirbt beim vergeblichen Protest. Selbst im vermeintlichen Paradies überschattet bei Murnau also das Böse – hier im Gewand eines alten Südsee-Kriegers – die Sehnsucht nach Liebe und normalem Alltagsleben.
Nur ein einziger Murnau-Film gilt als Komödie: Die Finanzen des Großherzogs von 1923, eine operettenhafte, leicht dahinfließende Geschichte um Adlige und Revolution, Geld und Liebe in einem imaginären Zwergstaat am Mittelmeer. Sonst überwiegt das Drama, das Murnau aber gern mit komödiantischen Elementen durchsetzt und auflockert. So überrascht Der letzte Mann mit einem (vielleicht von den Produzenten aufgezwungenen) märchenhaften Happy End, bei dem der degradierte Portier freudestrahlend alles im Überfluss genießt, von dem er zuvor nur träumen konnte. Im Faust spiegelt Murnau die hochromantische Annäherung des jugendfrischen „Helden“ an Gretchen in einer Art grober Parodie, wo Mephisto die Nachbarin becirct. Und in Sunrise amüsiert ganz unerwartet ein entlaufenes Schweinchen das gerade wieder versöhnte Paar und mit ihm die Zuschauer.
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