Okkultistische und religiöse Symbole in Murnaus Werk

Mit Okkultismus bezeichnet man ein übersinnliches, surreales Geheimwissen für Eingeweihte. In Literatur, Kunst und im Film wurde es zu Murnaus Zeiten öfters thematisiert. Murnaus Lebensumstände und entsprechende Aspekte seiner Filme faszinieren Okkultisten bis heute. Insbesondere Nosferatu bietet zahlreiche Hinweise auf okkulte Lehren. Im Faust greift Murnau noch bildgewaltiger surreale Vorstellungen im Kampf des (hellen, christlichen) Guten gegen das (dunkle, satanische) Böse auf. Auch in Tabu spielen geheimnisvolle Mächte eine entscheidende Rolle. Zwischen den Weltkriegen war die Sehnsucht nach einer Erklärung für die überstandenen Schrecken und vielleicht auch nach einem allmächtigen „Retter“ im Denken der Menschen sehr präsent.

Der skurrile Häusermakler Knock („über den viele Gerüchte gingen“) erhält in Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922) einen Brief vom Grafen Orlok, der die gruselige Filmhandlung in Gang bringt: Orlok möchte ein Haus in Wisborg kaufen, Knocks Gehilfe Hutter soll mit einem Angebot zu ihm reisen. Sowohl Orloks Brief als auch Knocks Antwort bestehen aus geheimnisvollen Zeichen, die dem Okkultismus zugeordnet werden. Auch der Vampirismus, der Hutter in einem Buch auf dem Nachttisch der Gastwirtschaft nahe von Orloks Schloss erläutert wird, gehört zu einem solchen übersinnlichen und surrealen Geheimwissen für Eingeweihte. Auch in Faust – eine deutsche Volkssage (1926) gibt es – neben diversen Anspielungen auf das Christentum – einige okkultistische Szenen: Der Gelehrte befragt den „Stein der Weisen“, auch er informiert sich später in einem alten Buch, in diesem Fall über „höllische Geister“, und erhält eine Art Gebrauchsanweisung, wie er mit dem „Herrn der Finsternis“ in Kontakt treten könnte. Auf diese Weise lernt er Mephisto kennen, der ihn zum „Teufelspakt“ überredet …

Der dreyfach gewaltige Schlüssel zum Zwange der höllischen Geister. Faust, TC: 00:17:06 Abb. 1: Der dreyfach gewaltige Schlüssel zum Zwange der höllischen Geister. Faust, TC: 00:17:04

Was also hat es mit dem Okkultismus auf sich? Das viele Jahrhunderte alte Geheimwissen, das in Geheimbünden erforscht und vermittelt wurde, kam im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geradezu in Mode, vielleicht als Gegenbewegung zu Rationalität und Fortschrittsglauben. Nach den unvorstellbaren Schrecken des Ersten Weltkrieges, als fast alle Gewissheiten schwer erschütterte waren, blühte die Beschäftigung mit Geheimwissen besonders auf. Entsprechende Szenen und Anspielungen durchziehen die Literatur, die zeitgenössische Kunst und auch den Film. Noch vor Murnaus Nosferatu und Faust hatten schon Robert Wiene mit Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) und Paul Wegener mit Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) okkultistische Motive filmisch aufgegriffen.

Ob Friedrich Wilhelm Murnau selbst ein Okkultist war, wissen wir nicht – aber seine (nicht zuletzt aufgrund der geheim gehaltenen Homosexualität) geheimnisumwitterte Persönlichkeit, seine Lebensumstände und die okkulten Aspekte seiner Filme ziehen bis heute Okkultisten oder auch Esoteriker geradezu magisch an. Die Geheimnisse um Leben und Werk Murnaus inspirierten manche gruseligen Bücher und Filme und führten sogar auch dazu, dass Fanatiker mehrfach sein Grab schändeten und 2015 vermutlich im Rahmen einer schwarzen Messe seinen Schädel raubten. Bekannt ist aber, dass Albin Grau, der die Produktion, die Dekorationen, die Kostüme und die zahlreichen Werbeplakate von Nosferatu verantwortete, ein bekennender Okkultist und Großmeister der „Pansophischen Loge der lichtsuchenden Brüder“ war. Sie beschäftigten sich u. a. mit Gnosis (ein elitäres Wissen um göttliche Geheimnisse), antiken Mysterien, Kabbala (eine mystische Tradition des Judentums) und Kosmosophie (Weltweisheit).

Abb. 2: Faust, TC: 00:12:45 Abb. 2: Faust, TC: 00:12:40

„Der Schrecken des Krieges ist aus den Augen der Menschen gewichen; aber es ist etwas zurückgeblieben, die Sehnsucht zu begreifen, wenn auch oft nur unbewusst, was hinter diesem ungeheuren Geschehnis liegt, was daherbrauste wie ein kosmischer Vampir“, so erläuterte Grau sein Interesse an dem Stoff. Der Filmsoziologe Siegfried Kracauer interpretierte diese „Sehnsucht“ in seinem berühmten Buch „Von Caligari zu Hitler“ (1947) eher prophetisch: „Nosferatu, eine Geißel Gottes, … ist eine blutrünstige, aussaugerische Tyrannenfigur, die im Reich der Mythen und Märchen haust. Es ist sehr bezeichnend, dass die Einbildungskraft der Deutschen zu jenem Zeitpunkt, gleich in welcher Ausgangslage, immer wieder – wie unter dem Zwang einer Hassliebe – diesen Figuren zutrieb.“

In Nosferatu suggerieren Murnau und sein Drehbuchautor Henrik Galeen, dass im Rahmen einer idyllischen Biedermeierszenerie und einer (zunächst) realistischen Handlung durchaus Okkultes passieren könnte, das nur Eingeweihte wie Knock verstehen. Und dass die Reise eines „Guten“ aus diesem christlich geprägten, klar überschaubaren Städtchen hinaus in die wilde, ungezähmte Natur manche Schrecken und die Konfrontation mit dem „Bösen“ mit sich bringen kann. Kurz vor der Ankunft von Nosferatu in Wisborg zeigt Murnau unvermittelt in schaurigem Orangerot eine Venusfliegenfalle, die ihr Opfer verschlingt. Im Zwischentitel heißt es: „Mit Grauen sah man in das geheimnißvolle Wesen der Natur.“

Abb. 3: Von Vampyren, erschrökklichten Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden. Nosferatu, TC: 00:16:59
Abb. 3: Von Vampyren, erschrökklichten Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden. Nosferatu, TC: 00:17:41

Die Briefe, die Knock bekommt und schreibt, weisen deutlich sichtbar mysteriöse Zeichen auf, die wie ein Bilderbuch der Geheimwissenschaften anmuten und offenbar von Kennern der Szene wie Albin Grau zusammengestellt wurden. Zu erkennen sind unter anderem ein Kryptogramm, eine versteckte Aufgabe mit einem (unbrauchbaren) Schlüssel aus der Kabbala, einer mystischen Tradition des Judentums, und hebräische Buchstaben. Das „Maison Dieu“ aus dem Tarot (entspricht im deutschen Tarot der Karte: „Der Turm”), dem Wahrsagekartenspiel, deutet auf ein zu realisierendes Werk. Zwei Malteserkreuze erinnern an die christlichen Johanniter-Ordensritter, sind aber als „Todbringer“ geschwärzt … Uneingeweihte erkennen auch einen Drachen (Tod), einen Totenkopf, Wellen (Reise übers Wasser), ein Insekt (Blutsauger), ein Haus (Unterkunft) und ein versiegelter Umschlag (um Antwort wird gebeten). Die Rede ist offenbar von Knocks Aufgaben und von Orloks „Kreuzzug“, seiner bevorstehenden realen und spirituellen Reise im Spannungsfeld zwischen dem männlichen Prinzip (Jupiter, aktive Tat), dem Weiblichen (Venus, die Liebe als überragendes Motiv) und dem Tod (Saturn, Selbstaufgabe).

Das Buch, das Hutter in der Herberge findet, zeigt auf dem Titel ein von allerlei Zeichen umrandetes „Auge der Vorsehung“ oder „Allwissendes Auge“, wie es von den Freimaurern bekannt ist. Der Titel lautet: „Von Vampyren, erschrökklichten Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden“ (Abb. 3). Beim Aufschlagen liest Hutter: „Aus dem Samen Belials erstand der Vampyr Nosferatu …“ Belial ist (im hebräischen Wortsinn) ein „wertloser“ Dämon, der u. a. als Gegenspieler des Erzengels Gabriel in der Bibel und im Tanach erwähnt wird. Im Satanismus ist er einer der vier Erzdämonen. In jüngster Zeit ist Belial als Gestalt in Computerspielen wieder populär geworden. Das Vampyr-Buch, so meint die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann, verweise auch auf seinen Gegenpol: das neue Medium Film, dem nichts als wirklich gilt denn die ‚äußere Welt, die reproduzierbar ist‘.

Im Faust greift Murnau noch bildgewaltiger und trickreicher als in Nosferatu den Kampf des (hellen) Guten gegen das (dunkle) Böse auf. Und er interpretiert den alten Stoff im Gegensatz zu Goethe als humanistisches Freiheitsstreben eines Menschen, der sein Schicksal zwischen guten und bösen Verlockungen selbst bestimmen will. Dieser Faust ist auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen einer von religiösen Normen geprägten Gesellschaft. Das geheimnisvolle, bereits von Flammen umloderte Buch, welches hier das Nahen des (in Mephisto) personifizierten Unheils ankündigt, heißt: „Der dreyfach gewaltige Schlüssel zum Zwange der höllischen Geister“ (Abb. 1). Die in der Hitze selbst umschlagenden Seiten offenbaren die Zeichnung eines gehörnten Teufels, Ringe, wie sie später auch bei der Anrufung zu sehen sind, lateinische Begriffe und schließlich auf Deutsch: „Und willst Du den Herrn der Finsternis verschwören, dass Er Dir helfe und Dir gebe alle Macht und Herrlichkeit der Welt …“

Gegen solche finsteren höllischen Geister setzt Murnau im Faust, wie schon im „himmlischen“ Vorspiel, manche hellen christlichen Symbole und Anspielungen auf biblische Motive, angefangen mit Gretchen, die der gründliche Kenner abendländischer Bildmotive immer stärker zur Pietà und zur Schmerzensmadonna stilisiert. Auch weitere Murnau’sche Frauengestalten gleichen eher Madonnen als sexy Wesen, so die keusche Ellen in Nosferatu und die namenlose Ehefrau in Sunrise. Am künstlichen Faust-Himmel tauchen auch ein strahlender Erzengel und die Reiter der Apokalypse auf. Reale und angedeutete Kreuze sind immer wieder zu sehen, so wie sie auch in Sunrise die Ehefrau umgeben. Der alte Faust erinnert mit seinem gewaltigen Rauschebart an Bilder von Gottvater, aber auch von Moses mit den zehn Geboten, wenn er sein satanisches Buch hoch über den Kopf hält, umrundet von Feuerringen.

Die heidnische Version von Nosferatu und Mephisto wirkt weitaus harmloser und heißt Hitu. In Tabu ist er der Krieger, der als personifiziertes Unheil über das Meer kommt, um eine Botschaft seines Häuptlings zu überbringen – ebenfalls per Brief, den wir in diesem Fall aber nicht dechiffrieren können. Selbst im vermeintlichen irdischen Paradies der Südsee sorgt eine unerklärte, mysteriöse Religion für die Trennung der Liebenden. Reri und Matahi dürfen nicht gemeinsam glücklich bleiben, denn die schöne, offenbar längst in die Freuden der Liebe eingeweihte Reri ist gegen ihren Willen als ewig keusche „Heilige Jungfrau“ ausgewählt worden. Im unchristlichen „Paradies“, so zeigt der enttäuschte Murnau, ist der Mensch erst recht nicht frei, sein Schicksal zu wählen. Fern von westlichen Glaubens- und Irrglaubenstraditionen lauern auch im Inneren der Gesellschaft dieses Sehnsuchtsorts der Europäer mysteriöse finstere Mächte, religiöser Fanatismus, Ungerechtigkeit und Feindschaft hinter der schönen Fassade. Zusätzlich zerstört nach der versuchten Flucht noch ein zweites Unheil – nun von außen – das Glück der Liebenden: der Geist des Kapitalismus, der mit den weißen und den chinesischen Kolonisatoren das „Paradies“ vergiftet hat und den schnell von ihnen betrogenen Matahi zwingt, sein Leben für das notwendig gewordene Geld zu riskieren.

Okkultismus und religiöse Zeichen in ausgewählten Ausschnitten

Im Folgenden finden Sie vier Filmausschnitte aus den Filmen Nosferatu (1922), Faust (1926), Sunrise (1927) und Tabu (1931).

  1. Entscheiden Sie, ob es sich um christliche, okkultistische oder andere religiöse Symbole und Anspielungen handelt und sortieren Sie die Symbole entsprechend Ihrer Einschätzung auf der Arbeitsfläche. Entnehmen Sie Standbilder, indem Sie auf das Kamera-Icon im Video tippen. Beschriften Sie jedes Standbild mit einem passenden Titel. Nutzen Sie zur Beschriftung die Textkärtchen. Sicheren Sie Ihr Ergebnis als Bildschirmfoto.

  2. Erläutern Sie, zu welchen Zwecken Murnau religiöse und okkultistische Symbole und Anspielungen in seine Filme gebracht hat. Ziehen Sie hierfür auch den Hintergrundtext zu Rate.



Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922) TC: 00:07:04 – 00:10:13

Faust - eine deutsche Volkssage (1926) TC: 00:01:56 – 00:05:02

Sunrise - A song of Two Humans (1927) TC: 00:15:56 – 00:18:26

Tabu (1931) TC: 00:17:58 – 00:21:02

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