Licht und Schatten bei Murnau

Das Fehlen von Farben im Schwarzweißfilmen, auch in viragierten Teilen, beinhaltet auch einen ästhetischen Vorteil, den Murnau und seine Kameramänner mit allen damals zur Verfügung stehenden Mitteln zu nutzen verstanden. Gemeint sind die künstlerischen, auch abstrahierenden und symbolischen Möglichkeiten für die Bildkomposition und den Raumaufbau, die in der „Übersetzung“ der Farben in Flächen und Linien sowie in der klug kalkulierten Wirkung von Licht und Schatten liegen.

Im Letzten Mann überhöht Murnau Licht und Schatten zum Symbol für gesellschaftlichen Auf- und Abstieg, von Oben und Unten oder auch von Recht und Unrecht, so wie es Bertolt Brecht vier Jahre später in der „Dreigroschenoper“ dichtete: „Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht / und man siehet die im Lichte / die im Dunkeln sieht man nicht.“ Im Licht oben flanieren und speisen die Reichen, ins Dunkel die Treppe hinunter zur Toilette bewegt sich der degradierte und gedemütigte Portier, als steige er in die Hölle hinab. Als er nachts seine Uniform entwendet, schleicht er heimlich durch dunkle Gänge. Wir sehen mit seinem „erlebten Blick“ nur die Lichtquellen, die er wahrnimmt, und die Ausschnitte, die sie erhellen: Die Leuchte des Nachtwächters und ihr Lichtkegel sowie das Streichholz, mit dem er seine Pfeife anzündet.

Die Leuchte des Nachtwächters in Der letzte Mann

Abb. 1: Die Leuchte des Nachtwächters in Der letzte Mann, TC: 01:10:40

In der Toilette selbst kommt noch das Licht von „denen da oben“ hinzu, das auf dem Niveau der Straße hinunter durch das Fenster fällt. In der Malerei hat Georges de la Tour im 17. Jahrhundert diese Kunst der sichtbaren Lichtquellen perfektioniert: Eine Kerze erhellt die Gesichter der Umstehenden – oder das Jesuskind, das seine Bewunderer im doppelten Sinne erleuchtet.

Joseph als Zimmermann, Georges de la Tour, 1642 Abb. 2: Georges de la Tour malte 1642 das Gemälde Joseph als Zimmermann

Faust gestalteten Murnau und sein Kameramann Carl Hoffmann dann mit offensichtlicher Freude am künftigen Staunen der Zuschauer wie ein fantastisches Licht- und Schattenspiel. „In seinem Faustfilm hat Murnau, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, alle Mittel mobilisieren können, die ihm eine totale Beherrschung des Raums sicherten. Sämtliche Formen – die der Gesichter, der Körper, der Gegenstände wie der Landschaften und der Naturerscheinungen, Schnee, Licht, Feuer, Wolken – sind nach seiner Vorstellung aus der genauen Kenntnis ihrer Wirkungsweise heraus gestaltet oder umgestaltet. Niemals sonst hat ein Film so wenig auf den Zufall gesetzt“, schreibt der französische Filmregisseur Eric Rohmer in seiner Analyse. Hier geht es nicht um gesellschaftliche, sondern um himmlische und höllische Sphären: Gut kämpft gegen Böse, das Licht gegen die Finsternis, der gute Erzengel strahlt wie die Sonne, während der Böse sich wie ein schwarzer Scherenschnitt davorschiebt. Rohmer nennt es die „Organisation der reinen Formen“, mit denen Murnau Licht und Schatten in verschiedensten Materien miteinander ringen lässt. Das Licht, das aus dem Dom strömt, bildet für Faust, der sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen hat, eine undurchdringliche Wand. In raffinierter Verschiebung der Größenverhältnisse wird Mephistos Mantel so gigantisch, dass er das gesamte Mini-Städtchen unter ihm in Dunkelheit hüllt. Dicker schwarzer Rauch wird zur Pest, die alles auszulöschen droht. „Die Form verziert hier nicht den Inhalt, sie erschafft ihn“, so Rohmer. „Murnau hat nichts zu sagen, er gibt zu sehen“.

In Sunrise, Murnaus erstem Hollywood-Film, liegen die deutsche Tiefgründigkeit und mit ihr die schwere Symbolik des Faust bereits hinter ihm. Schon der Titel verheißt Licht und neue Hoffnung. Hell und fröhlich beginnt der Film auch mit Sommerfrische am See, eine ländliche Idylle, die bereits den paradiesischen Ausgangspunkt von Tabu andeutet. Doch wir ahnen schon, dass auch hier der Schein trügt. In Sunrise ist es die Nacht, die das Unheil bringt: Kaum ist die Sonne untergegangen, lockt der Vamp aus der Stadt den Bauern aus dem heimeligen Lichtschein seines Häuschens ins Moor und überredet ihn, seine Frau umzubringen. Anders als in Nosferatu waren nun, fünf Jahre später, Nachtaufnahmen bereits möglich, aber Murnau und sein Kameramann Charles Rosher brauchten – zusätzlich zum matten Mondschein - noch sehr viel Licht, um das Geschehen sichtbar zu machen. Eigentlich ist die Nacht, zumal die Nacht im frühen Schwarzweißfilm, ja so dunkel, dass wir kaum erkennen könnten, was der Vamp da mit dem Bauern anstellt. Der damals übliche Trick, Menschen oder auch Dinge in (farbloser) dunkler Nacht sichtbar zu machen, heißt „Kantenlicht“. Gemeint sind Lichtkonturen aus unsichtbaren, von hinten kommenden Quellen, die um die dunklen Personen herum ganz oder teilweise helle Linien „zeichnen“, so dass sie deutlich vom Dunkel des Himmels und der Landschaft abgegrenzt werden. Steht eine Person im Gegenlicht, nehmen wir solche Konturen auf natürliche Weise wahr.

Mondschein und Kantenlicht in Sunrise, TC: 00:11:57

Abb. 3: Mondschein und Kantenlicht in Sunrise, TC: 00:11:57

Darüber hinaus beleuchten Murnau und Rosher die Gesichter der Menschen im Dunkeln unabhängig vom Mondschein mit minimalem Licht so, dass ihre Charakteristik und ihre Entwicklung erkennbar bleiben. Nie ist nur eine Gesichtshälfte sichtbar, was rein dämonisch wirken würde, sondern zumindest mit einem Lichtpunkt oder -reflex auch die andere. Mit der Lichtsetzung im Gesicht der Frau zeigt Murnau auch ihren Stimmungsumschwung: Als ihre Angst vor dem „Mann“ nach dem Blumengeschenk neuer Zuversicht weicht, setzt er in einer Großaufnahme ein wesentlich weicheres, kontrastärmeres Licht ein: Die Schatten der Bedrohung sind gewichen, der Sonnenaufgang naht.

Beleuchtung: Licht und Schatten im Film

Lichtspielhäuser hießen zu Murnaus Zeiten die Theater, in denen seine Filme gezeigt wurden, Schattentheater haben eine Jahrhunderte alte Tradition und Schattenspiele hat wohl jeder schon ausprobiert. Licht und Schatten gehören zu den wichtigsten Gestaltungsmitteln und werden von Filmemachern gezielt eingesetzt, um Stimmungen zu erzeugen, bestimmte Objekte hervorzuheben oder andere zu verbergen. Im Folgenden können Sie sich über die technischen Fachbegriffe zum Thema Licht und Schatten in Filmen informieren.

Licht

Licht kann entweder von natürlichen Lichtquellen ausgehen (Tageslicht, Straßenlampen, etc.) oder zusätzlich oder auch ausschließlich durch künstliche Beleuchtung geschehen. Solche Lichtquellen können im Bild sichtbar sein (z. B. Taschenlampen, die von Charakteren gehalten werden, Kerzen, etc.). Häufig sind jedoch die Lichtquellen, die den größten Anteil an der Beleuchtung einer Szene haben, außerhalb des Bildrandes positioniert.

Natürliche Lichtquelle Künstliche Lichtquelle

Lichtqualität

Die Lichtqualität bestimmt, ob es sich um hartes Licht oder weiches Licht handelt. Hartes Licht erzeugt besonders scharfe Kanten zwischen beleuchteten und schattigen Bereichen. Eine harte Beleuchtung wird mithilfe direkter, sehr heller Lichtquellen erzeugt. Personen, die mit hartem Licht beleuchtet werden, wirken oft weniger attraktiv, weil Falten, Gesichtskonturen und Unebenheiten der Haut durch die starken Kontraste zwischen hellen und dunklen Bereichen auffallend stark hervortreten. In Thrillern und Horrorfilmen wird dieser Effekt genutzt, um Personen besonders schaurig oder bedrohlich wirken zu lassen (der Klassiker wäre ein Gesicht, das von einer Taschenlampe nur teilweise beleuchtet wird).

Weiches Licht ist eher diffus und hat eine breite Streuung. Es hat die besondere Eigenschaft, weiche, fließende Übergänge zwischen schattigen und hellen Bereichen zu erzeugen. Außerdem lässt es raue Oberflächen glatt erscheinen und verleiht harten Kanten ein weiches Aussehen. Personen, deren Gesichter mit weichem Licht ausgeleuchtet werden, wirken attraktiver und jünger, weil Unebenheiten der Haut und Falten optisch ausgeglichen werden.

Beleuchtungsstile

Klassischerweise unterscheidet man drei Beleuchtungsstile. Im Normalstil sind alle Elemente der Szene gleichmäßig ausgeleuchtet und gleich gut erkennbar. Die Verteilung von Licht und Schatten entspricht den Sehgewohnheiten des Betrachters. Beim Low-Key-Stil bleiben große Teile des Bildes dunkel, gleichzeitig erzeugt hartes Licht einen starken Kontrast zwischen beleuchteten und schattigen Bereichen. Oft wird damit ein dramatischer oder mysteriöser Effekt erzielt. Bei der Beleuchtung im High-Key-Stil gibt es überwiegend helles, weiches Licht und wenig Schattenflächen. Durch fehlende harte Schatten wirken auf diese Weise ausgeleuchtete Bilder normalerweise hell und freundlich.

Low-Key-Stil High-Key-Stil

Ferdinand du Puigaudeau: Chinese Shadows, the Rabbit, 1895 Abb. 4: Ferdinand du Puigaudeau: Chinese Shadows, the Rabbit, 1895

Schatten

Bei Schatten wird grundsätzlich zwischen Eigenschatten und Schlagschatten unterschieden. Eigenschatten entstehen, wenn ein Objekt Schatten auf sich selbst erzeugt, z. B. die Nase einen Schatten auf die Wange wirft. Schlagschatten entstehen, wenn ein Objekt Licht blockiert und seinen Schatten auf ein anderes Objekt wirft.

Schatten können realistische Abbildungen eines Objektes sein; häufig werden sie aber auch genutzt, um die tatsächlichen Formen zu vergrößern, zu verkleinern oder zu verzerren. So kann durch geschickten Einsatz von Schlagschatten aus einer Maus ein Gigant oder aus einer Hand eine Klaue werden.

Filmausschnitt 1: In Der letzte Mann zeichnet Murnau mithilfe von Schlagschatten den inneren Zustand seines Protagonisten nach; TC: 01:04:46-01:05:42

Schatten: Aufgaben

Im Folgenden finden Sie eine Auswahl von Standbildern aus den Filmen Nosferatu (Bild 1-6), Faust (7), Der letzte Mann (8-9) und Sunrise (10-11). Die Standbilder stehen stellvertretend für Szenen, in denen Murnau von den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten des Schlagschattens Gebrauch gemacht hat.

  1. Wählen Sie ein Standbild aus, das Sie näher analysieren möchten. Schneiden Sie die Schlagschatten mit dem Lasso-Werkzeug aus. Arrangieren Sie den Schatten auf der weißen Karte.

  2. Versuchen Sie nachzuvollziehen, wie das Filmbild technisch realisiert wurde. Arrangieren Sie dazu die Lichtquelle, das Objekt das den Schatten wirft, die Kamera und den ausgeschnittenen Schatten so auf der Arbeitsfläche, dass ein schlüssiger Aufbau entsteht. Sichern Sie Ihr Ergebnis als Bildschirmfoto.

Lasso
Lichtquelle
Objekt
Kamera


  1. Das Erscheinungsbild des Schlagschattens weicht oft mehr oder weniger stark von dem Objekt, das ihn wirft, ab. Bestimmen Sie den Grad der Abweichung des Schattens vom Objekt mit Hilfe des ersten Schiebereglers.

  2. Wie wirkt der Schatten auf den Betrachter? Nutzen Sie den zweiten Schieberegler, um den Schatten auf einer Skala von freundlich bis bedrohlich einzuordnen.

Grad der Abweichung
Wirkung

Beleuchtung: Aufgaben

In diesem Abschnitt können Sie sich näher mit dem Einsatz von Licht in zwei Ausschnitten aus Murnaus Film Faust – eine deutsche Volkssage beschäftigen. Im ersten Ausschnitt (Filmausschnitt 2) wurde Faust gerade von Mephisto zurück in sein jugendliches Selbst verwandelt und Mephisto lässt das Bild einer nackten Frau erscheinen. Im zweiten Ausschnitt (Filmausschnitt 3) ist Faust bereits der Ausschweifungen überdrüssig geworden und sinniert an einem unwirtlichen Ort.

  1. Sehen Sie sich zunächst die beiden Filmausschnitte an. Achten Sie besonders darauf, wie Faust und Mephisto mit Hilfe der Beleuchtung in Szene gesetzt werden.

Filmausschnitt 2: Faust – eine deutsche Volkssage, TC: 00:34:13-00:35:00


Filmausschnitt 3: Faust – eine deutsche Volkssage, TC: 00:44:19-00:45:57


Im Folgenden finden Sie zwei Standbilder aus den Filmausschnitten, die Ihnen dabei helfen, die Beleuchtungssituation in beiden Ausschnitten näher zu untersuchen.

  1. Markieren Sie zunächst mit dem gelben Kreiswerkzeug die Stelle in beiden Bildern, von der das Licht auszugehen scheint.

  2. Die tatsächlichen Lichtquellen befinden sich jedoch außerhalb des Bildes (engl. offscreen). Ziehen Sie die Lampen auf die Orte, an denen Sie die Lichtquellen vermuten.

  3. Bestimmen Sie anschließend die Lichtqualitäten. Handelt es sich um hartes oder eher weiches Licht? Nutzen Sie die Textkärtchen, um die Qualität des Lichtes näher zu beschreiben. Sicheren Sie Ihr Ergebnis als Bildschirmfoto.

  4. Beschreiben Sie abschließend, welcher Effekt durch die unterschiedlichen Beleuchtungen erzeugt wird. Wie betont das Lichtarrangement die Eigenschaften der Charaktere? Was wird gerade nicht oder nur wenig beleuchtet, und welcher Eindruck wird dadurch erweckt? Notieren Sie Ihre Gedanken im Notizfeld.



Kreis
Lichtquelle
Textkärtchen