Als „übergeordnetes Leitbild“, das die bisherige und zukünftige schulische Arbeit repräsentiere, haben die Gremien der Gesamtschule Stieghorst 2013 zur Ergänzung ihres Schulnamens „Friedrich Wilhelm Murnau“ gewählt. „An Murnaus Schaffen inspiriert uns die Tatsache, dass er die Kamera als Zeichenstift des Regisseurs betrachtete und es ihm in seiner Zeit gelungen ist, auf unnachahmliche Weise Stimmungen einzufangen. Er hat den Film als neue Kunstform etabliert“, so heißt es in der Begründung.
Für Friedrich Wilhelm Murnau (Abb. 1) als Namenspatron spricht noch einiges mehr: Nicht zuletzt gehört er zu den wenigen „großen Söhnen“ der Stadt, die international ein Begriff geblieben sind – und deren Name auch umgekehrt den Bekanntheitsgrad der gern verspotteten Stadt erhöht. Der Name Murnau zeigt auch, dass Bielefeld noch anderes hervorgebracht hat als u. a. Vanillepuddinge, Oberhemden und Registrierkassen. Und er ruft in Erinnerung, dass Bielefeld einst eine Kinometropole war: In den Fünfzigern und frühen Sechzigerjahren wurden oft und gern Welturaufführungen, deutsche Erstaufführungen und viele Premieren gefeiert. Die Stadt galt als Gradmesser für die Popularität eines Films, weit mehr Menschen als in vergleichbaren Städten besuchten Kinovorführungen und fast alle Stars jener Zeit ließen sich hier auch mal persönlich bejubeln: Gary Cooper, Romy Schneider, Hildegard Knef, Hans Albers und Eddie Constantine gehörten dazu. An Friedrich Wilhelm Murnau erinnerte sich zu jener Zeit allerdings kaum jemand.
Abb. 1: Friedrich Wilhelm Murnau (1920)
Der spätere Filmpionier war als Kleinkind nur kurz in seiner Geburtsstadt geblieben und ist nie zurückgekehrt. Geboren am 28. Dezember 1888 in der Bahnhofstraße 6 als Friedrich Wilhelm Plumpe, getauft in der Altstädter Nikolaikirche, zog er mit seiner Familie bereits drei Jahre später nach Kassel. Der Vater hatte die Textilfirma des Onkels Hermann August Delius übernommen, verwandtschaftlich war er gut vernetzt mit den großen Kaufmannsfamilien der Stadt. Der Sohn Friedrich Wilhelm hatte nichts im Sinn mit dieser Familientradition, er entwickelte, angeleitet von der Mutter, schon früh musische Interessen. Er las viel und spielte mit den Geschwistern die Theaterstücke nach, die er im Kasseler Hoftheater gesehen hatte.
Gleich nach dem Abitur 1907 zog der spätere Murnau nach Berlin, um Sprachwissenschaften zu studieren. Bielefeld blieb für ihn kaum mehr als ein Eintrag im Pass. Und doch schrieb er später, bereits in Hollywood: „Ich bin ein Sohn der roten Erde und wurde in Westfalen geboren.“ Zeitgenossen und spätere Bewunderer charakterisieren ihn öfters als typisch westfälisch, was immer das genau ist. „… westfälisch schwermütig, mit Gespenstern auf du und du“, meinte die Filmkritikerin Frieda Grafe. Emil Jannings, u. a. sein Letzter Mann und sein Mephisto, urteilte: „Von den großen Erscheinungen des Films war Murnau der deutscheste. Westfale, gehemmt, streng mit sich selbst, gegen die anderen, und streng in der Sache. Schroff nach außen, knabenhaft und gütig im tiefsten Innern. Von allen großen Regisseuren der stärkste Charakter, für keinen Kompromiss zu haben, unverführt von Geld.“
Westfälische Spuren ziehen sich auch durch Murnaus erste Filme: Den (verschollenen) Knaben in Blau drehte er auf der alten Wasserburg Vischering im Münsterland, Der brennende Acker beschwört unerwartet die „rote Erde“: Auf einem „Teufelsacker“ entdeckt der ehrgeizige Bauernsohn eine Petroleumquelle, die ihm aber kein Glück bringt. Ländliche Idyllen als Gegenbild zur modernen, verlockend gefährlichen Großstadt tauchen öfters in Murnaus Werk auf, am deutlichsten in seinem ersten Hollywoodfilm Sunrise. Heimweh lag dem Weitgereisten aber fern. Kurz vor seinem Tod schrieb er in der Südsee: „Nirgends bin ich zu Hause – in keinem Lande und keinem Haus, in keinem Menschen“.
Spuren des „großen Sohnes“ finden sich – abgesehen von der Murnau-Gesamtschule! – in Bielefeld kaum: Sein Geburtshaus in der Bahnhofstraße 6 wurde früh abgerissen, von 1936 bis 2001 stand dort das nach Bombenschäden wieder aufgebaute „Capitol“-Kino, inzwischen ist eine spanische Bekleidungskette eingezogen. Eine in den Neunzigerjahren angebrachte Gedenktafel wurde im Zuge der Bauarbeiten entfernt und ist nie wieder aufgetaucht. In der Volkshochschule, die zum 100. Geburtstag eine Ausstellung mit Katalog zu Murnaus Ehren zeigte, ist ein Veranstaltungssaal nach ihm benannt. Eine banale Stichstraße in Schildesche trägt seinen Namen. Im Elan des Gedenkens zum 100. wurde auch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Gesellschaft gegründet, die alljährlich im Herbst das Film+MusikFest mit Stummfilmen und Livemusik veranstaltet. Zugleich wurde ein Murnau-Filmpreis ins Leben gerufen, den als erster der französische Regisseur Eric Rohmer erhielt, die zehnte und bislang letzte Preisträgerin war 2015 die belgische Regisseurin Chantal Akerman.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte Friedrich Wilhelm Plumpe dank des großen Regisseurs und Produzenten Max Reinhardt das Theater für sich entdeckt – zunächst als Schauspieler. Parallel dazu begeisterte er sich für Kunstgeschichte und die aktuelle Aufbruchsstimmung junger Künstler, die sich u. a. in der Vereinigung „Der Blaue Reiter“ mit neuartigen Bildkonzepten an die Öffentlichkeit wandten. Und er verliebte sich in seinen Kommilitonen, den Lyriker Hans Ehrenbaum-Degele. All das war so gar nicht nach dem Geschmack von Vater Plumpe – und so entschloss sich der Sohn, den unschönen Familiennamen abzulegen und als Friedrich Wilhelm Murnau ein neues Leben anzufangen. „Murnau“ nach dem bayrischen Städtchen am Staffelsee, wo sich Kollegen und Freunde des „Blauen Reiters“ trafen, wo ihn – genau weiß man das nicht – vielleicht eine Aufführung der Reinhardt-Inszenierung des Sommernachtstraums entscheidend beeindruckt hatte, oder wo er – das ist die romantische Version seiner Biografin Lotte Eisner – vielleicht erstmals die Liebe erlebt hatte.
Bereits während des Krieges fand Murnau in der Schweiz Gelegenheit, Theater zu spielen und sich mit dem noch neuen Medium Film zu beschäftigen. Zurück in Berlin, geprägt von den Schrecken des Krieges und dem Tod des Freundes Ehrenbaum-Degele, knüpfte Murnau relativ schnell Kontakt zu den Filmstudios und zu Filmbegeisterten, die wie er darauf brannten, aus der Kenntnis der „alten“ Künste heraus etwas Neues zu schaffen und die künstlerischen wie technischen Möglichkeiten des Films auszuschöpfen und zu erweitern.
An der Schwelle der gern als „golden“ verklärten Zwanzigerjahre waren die sozialen Verhältnisse nach dem Ende des schrecklichen Krieges zwar immer noch mitleiderregend, aber Lebenshunger und Nachholbedürfnis sorgten dafür, dass Bühnen und Kinos florierten und immer weitere Ablenkung vom grauen Alltag gesucht wurde. Die neuen Zeiten der Weimarer Republik bedeuteten auch den Zusammenbruch der alten Ordnung: Der Kaiser lebte im Exil, das Militär hatte seinen Glanz gründlich verloren, technischer Fortschritt, ein neuer hektischer Rhythmus und veränderte Rollenbilder verunsicherten die Menschen. Träume von „reiner“ Natur, fernen Paradiesen und Wundern aller Art grassierten, aber auch Zuflucht bei okkulten, angeblich prophetischen Medien und Ängste vor einem diffus drohenden Unheil. Die Metropole Berlin, die damals eine magische Anziehungskraft weit über Deutschland hinaus ausübte, entwickelte sich schnell zur Talentschmiede, zum Nährboden und zum Treffpunkt für Kreative aus allen Bereichen.
Abb. 2 u. 3: In den 1920er Jahren war der Krieg zwar vorbei, aber noch spürbar. Gleichzeitig begannen Quellen der Ablenkung, wie Kinos und Theater, zu florieren. (Quelle Abb. 1: Bundesarchiv, Bild 146-1972-062-01 /
CC-BY-SA 3.0)
In dieser schillernden Metropole und in dieser inspirierenden, so innovativen Zeit drehte Friedrich Wilhelm Murnau bis zu seinem Wechsel nach Hollywood 17 Filme, von denen sieben frühe Werke bis heute verschollen sind. Das war damals nicht ungewöhnlich, denn Filme galten noch nicht als aufwendig konservierte und restaurierte „Siebte Kunst“, sondern als schnell produzierte Gebrauchsware.
„Ich versuche, in jedem meiner Filme künstlerisches Neuland zu entdecken und neue künstlerische Ausdrucksformen zu finden. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass jeder Film, den der Regisseur wirklich erlebt, durchdringen wird, und jede Aufgabe, die sich nicht mit geldlicher Spekulation beschäftigt, weist auf die Zukunft“, schrieb Murnau 1928. Der Plan gelang: Spätestens seit dem Letzten Mann gilt Murnau als einer der erfolgreichsten und einflussreichsten Regisseure seiner Zeit. In Hollywood, das sich gerade erst als Traumfabrik etablierte, wurde der Produzent William Fox auf ihn aufmerksam, der in ihm ein „German Genius“ sah und sein eigenes Image mit künstlerisch wertvolleren Filmen aufzupolieren hoffte.
Im Zuge einer klug geplanten Marketingkampagne feierten die Amerikaner Friedrich Wilhelm Murnau bereits bei seiner Ankunft in New York, The Last Laugh (Der letzte Mann) und Faust hatten Fachleute wie auch das Publikum von seinem Genie überzeugt. „Ich folgte dem Angebot nach Hollywood, weil ich glaubte, dass man immer noch etwas lernen kann und mir Amerika neue Wege bot, meine künstlerischen Pläne zu verfolgen“, schrieb Murnau. Der begeisterte William Fox sicherte seinem „Import“ für den ersten Film geradezu legendäre Freiheiten und Gagenzahlungen zu. Er durfte einige seiner Mitarbeiter aus Deutschland – wie Drehbuchautor Carl Mayer – weiter beschäftigen und eine komplette „deutsche“ Stadt aufbauen: mit falschen Perspektiven, echten Straßenbahnwaggons, transparenten Räumen und unzähligen Lichtquellen. Acht Monate dauerten die Dreharbeiten, die Kosten stiegen schwindelerregend.
Abb. 4: Bankett während der zweiten Oscarverleihung 1930
Sunrise wurde zwar ein Erfolg, bei der Fachpresse, bei der allerersten Oscarverleihung und – eingeschränkt – auch beim Publikum, aber über Murnaus Zukunft als unabhängiger Regisseur legten sich – wie beim nahenden Unheil in seinen Filmen – zunehmend dunklere Schatten: Der Tonfilm kündigte sich an und mit ihm künstlerische Kompromisse, auf die Murnau immer weniger Einfluss hatte. William Fox selbst, Murnaus großer Förderer, versuchte mit aller Macht, sein neues Movietone-System durchzusetzen, erübrigte kaum noch Zeit für sein „German Genius“ und machte schließlich beim großen Börsenkrach von 1929 Bankrott. Das alles führte dazu, dass Teile der folgenden beiden Filme 4 Devils und City Girl mit Dialogen neu gedreht und allzu melancholische Passagen ersetzt wurden. Außerdem stand weit weniger Geld als geplant für die Ausstattung zur Verfügung. Der enttäuschte Murnau kaufte sich eine Segeljacht und entfloh in eine vermeintlich bessere Welt.
Abb. 5: Von dem in den 20er Jahren aufkommenden Tonfilm fühlten sich viele Künstler im Filmgeschäft bedroht (Flugblatt um 1929)
Auf der Suche nach einem irdischen Paradies fern von Hollywood, mit Menschen aus einer „anderen Welt“ reiste Murnau in die Südsee, um auf Bora Bora und Tahiti Tabu zu drehen. Zusammen mit dem Dokumentarfilmer Robert Flaherty plante er einen halbdokumentarischen Film mit einheimischen Laiendarstellern, der sich aus der eigenen Anschauung heraus entwickeln sollte. Doch die beiden Filmemacher zerstritten sich schnell: Flaherty beharrte auf Authentizität, Murnau bevorzugte doch eine „richtige“ Geschichte, die in ihrer Grundstruktur – kurzes Glück, personifiziertes Unheil, Flucht, Ende mit Schrecken – an seine früheren Filme erinnert. Friedrich Wilhelm Murnau drehte Tabu schließlich allein und ließ auch seine eigene Enttäuschung über die Verwestlichung des geträumten „Paradieses“ einfließen. Die Dreharbeiten waren in vielerlei Hinsicht mühsam. Esoteriker kolportieren gern, dass auch Murnau selbst diverse Tabus brach und dafür verflucht wurde … Er genoss trotzdem das Leben in exotischen Gefilden: „Ich bin wie verhext von diesem Lande … ich möchte nirgends anders mehr sein. … Schwer zu sagen, was schöner ist, die Nächte oder die Tage, immer neu, immer anders – und immer anders, als man es erwartete …“.
Aber das Geld ging ihm aus, zur Fertigstellung des Films musste er nach Hollywood zurückkehren. Dort schien zunächst alles zu gelingen: Paramount kaufte den Film und stellte Murnau einen Zehnjahresvertrag in Aussicht. Die New York Premiere war für den 18. März 1931 angekündigt, für den 31. März hatte Murnau eine Schiffspassage nach Europa gebucht, unter anderem wollte er seine Mutter besuchen.
Doch es kam anders: Am 11. März 1931 starb Friedrich Wilhelm Murnau in Kalifornien an den Folgen eines Autounfalls. Auf dem Weg nach Monterey hatte er seinem jungen philippinischen Butler das Steuer überlassen. Der fuhr zu schnell, verlor die Gewalt über den Packard und stürzte eine Böschung hinab. Zur Trauerfeier in Hollywood kam auch Greta Garbo, die Murnau sehr bewunderte und lange seine Totenmaske aufbewahrte. Murnaus Leichnam wurde nach Berlin überführt und am 11. April auf dem Waldfriedhof in Stahnsdorf beigesetzt. In der Trauergemeinde fanden sich zahlreiche Kollegen und Mitarbeiter. Fritz Lang, der Regisseur von Metropolis, beendete seine Grabrede mit den folgenden Worten: „Wenn einmal Jahrzehnte vergangen sein werden, dann wird man wissen, dass hier ein Pionier mitten aus dem Schaffen abtrat, dem der Film die eigentliche Basis verdankt, sowohl in künstlerischer wie in technischer Beziehung. Das was er erkannte, dass der Film weit mehr als die Bühne das Leben als Gleichnis darzustellen berufen ist, das wird sich dann als selbstverständlich durchgesetzt haben.“