Ein dreidimensional wahrnehmbarer, konstruierter Raum im Film muss eine kunstvoll erzeugte Illusion sein, denn sowohl das Filmmaterial als auch die Leinwand oder der Bildschirm bleiben ja zweidimensional. Was wir als Raum mit einer bestimmten Wirkung von Enge oder Weite erleben, ist meist das Resultat von Lichtführung, Kamerabewegungen, Wahl des Objektivs, Tiefenschärfe, Schnitt – und raffinierten Bauten, die nur im Zusammenklang aller filmischen Elemente im Auge des Zuschauers natürlich wirken.
Im schwarzweißen oder viragierten Stummfilm hatte die Raumgestaltung eine noch viel größere Bedeutung als später im Farbfilm mit seinen zunehmend größeren technischen Möglichkeiten. Auch die Filmarchitektur musste „sprechen“, also aussagekräftiger Teil der Handlung und typisch für die „Botschaft“ werden. Entsprechend sorgfältig wurde jedes Detail ausgewählt und eingesetzt. Ein simples Abfilmen der Realität wäre da viel zu beliebig und verwirrend gewesen. „Um die Stadt darzustellen, gründet Murnau eine (fiktive) Stadt“, schrieb der Feuilletonist Arnold Höllriegel. Die Filmkritikerin Frieda Grafe sprach von einem „empfundenen Raum, in dem Blicke visualisiert sind. Es sind Räume mit einer imaginären Optik“.
Außerdem war mit den zu Murnaus Zeiten üblichen Kameras Tiefenschärfe nur sehr eingeschränkt zu erreichen. Wer verschwommene Hintergründe vermeiden wollte, musste mit falschen Perspektiven arbeiten – und in dieser Hinsicht kreierten Murnaus Filmarchitekten wie Robert Herlth und Walter Röhrig in Der letzten Mann und Rochus Gliese in Sunrise nach den Visionen des „Meisters“ wahre Wunderwerke.
Das ungenannte „Berlin“, das in Der letzte Mann meist aus der Perspektive der Drehtür des Hotel Atlantic zu sehen ist, setzten Herlth und Röhrig ebenso wie den Hinterhof in den Sand der Filmstadt Babelsberg bei Potsdam. Herlth verriet, wie diese „Stadt“ wirklich aussah: „Die Straßenkulisse ist an der Front acht Meter hoch und verjüngt sich nach hinten auf vier Meter. Der Wolkenkratzer, dessen normale Höhe 120 Meter betragen würde, misst knapp zwölf Meter. Also so ziemlich das Verhältnis 1:10, welches überhaupt bei dieser Dekoration durchgeführt erscheint. Bei Bauten, bei Autos, bei Menschen.“ Im Vordergrund kreuzen Erwachsene und „echte“ Autos den Blickwinkel, weiter hinten Kinder, die wie entfernte Erwachsene wirken und noch weiter hinten winzige Pappfiguren (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Kulisse vor dem Hotel Atlantic in Der letzte Mann, TC: 00:02:53
Der Filmsoziologe Siegfried Kracauer schreibt: „Die unvermittelte Darstellung des Gegensatzes von Hotelvestibül und Mietskaserne redet ihre eigene Sprache, die Architekturen drücken ohne Kommentar das Gemeinte aus, die Ineinanderreihung der Situationen gestaltet mit an dem Sinn; Kunstmittel, über die nur der Film verfügt, erlangen konsumtive Bedeutung.“ Die entgegengesetzten Welten von Hotel und Hinterhof bezeichnen dabei nicht nur die soziale Hierarchie von Oben und Unten, Reich und Arm, sondern (so interpretiert es der Architekturhistoriker Helmut Weihsmann) mehr noch den psychologischen Konflikt des Portiers: Die geliebte und ersehnte Hotel- und Großstadtwelt seines ursprünglichen Berufs ist hell, weit, transparent und überwiegend von elegant gewandeten, würdigen, wichtigtuenden Männern belebt, während seine Ursprünge und sein Wohnraum in den verborgenen und gern aus dem Bewusstsein verdrängten Hinterhof-Mietskasernen klein, dunkel und undurchlässig sind; belebt von kleingeistigen, gehässigen, ewig keifenden und klatschenden Frauen.
In Sunrise vermittelt die enge und solide, undurchdringliche Bauweise des Dorfes und seiner kuschelig anmutenden Zimmer eine viel positivere Botschaft: Hier auf dem Lande, nahe der Natur, ist die Welt noch in Ordnung – solange, wie man sich auf die einfachen, archaischen Freuden der Arbeit und der Familie beschränkt. Der technische Fortschritt und mit ihm die rasant fortschreitende Mobilität – Eisenbahn, Dampfer, Straßenbahn, Jahrmarktsflugzeuge und Autos werden gezeigt – bedrohen dieses Glück im stillen Winkel aber immer mehr.
Für die ebenfalls ungenannte Großstadt in Sunrise, in der das Bauernpaar nach dem Mordversuch wieder zusammenfindet, verwendete Rochus Gliese bei den optisch vergrößerten Räume ähnliche gestauchte Perspektiven wie seine Kollegen in Der letzte Mann. Kameramann Charles Rosher erinnerte sich: „Ich arbeitete für die Szenen im großen Café mit einem Weitwinkel von 35 bis 55 Millimeter.“ Die Räume waren so gebaut, dass „der Boden anstieg und die Decken in falscher Perspektive gehalten“ waren. „Die Lampenkugeln im Vordergrund waren größer als im Hintergrund. Wir setzten sogar elegant gekleidete Zwerge, Männer und Frauen, auf der Galerie ein. All das zusammen ergab ein tolles Gefühl von einer weit größeren Tiefenwirkung als wir wirklich hatten.“ Auch verkleinerte Requisiten und Möbel im Hintergrund unterstrichen die Illusion von Raumtiefe. Für die verkleinerte Rutsche im Luna-Park setzte das Murnau- Team auch Kinder und Puppen ein (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Das große Café in Sunrise, TC: 01:11:16
Eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von filmischen Räumen im Stummfilm spielten auch Hinterglas-Einstellungen. Glaswände und -türen, Spiegel, Lichtgitter, opalisierende Reflexe und Widerspiegelungen werden gerade im Letzten Mann mit spürbarer Experimentierfreude eingesetzt und variiert, um Raumtiefen zu akzentuieren. Das beginnt schon mit der Drehtür als herumschwingendem Rahmen für die Außenwelt, später sehen wir den Portier durch eine regennasse Scheibe hindurch auf der anderen Seite des Autos stehen. Seine Kündigung erleben wir wie zufällige Beobachter durch eine transparente Bürotür hindurch, wobei die Scheibe so zweigeteilt ist, dass der entsetzte Portier und sein arroganter Chef wie in zwei Rahmen optisch getrennt werden: Eine Verständigung ist ausgeschlossen.
In Sunrise hat Rochus Gliese eine groß und elegant wirkende Stadt wie eine gläserne Welt konstruiert, die im Inneren immer neue lichtdurchflutete und luftige Räume sichtbar werden lässt. Blinkende Lichtreklamen, erleuchtete Fenster und Lichtkugeln auch auf der Straße sorgen für weitere Aufhellung der nächtlichen Großstadtstimmung. Der Medienwissenschaftler Thomas Koebner interpretiert: „Eine Welt der demokratischen Kontrolle der einen durch die anderen, des Sichtbarwerdens füreinander, aber auch eine Welt der vielen Schicksale, die wie Fäden in einem Gewebe miteinander verwoben sind. Beinahe in jeder Einstellung sind viele Menschen zu sehen: die tröstliche Gegenwart der anderen in der Stadt. Die Architektur wie die Erzählung vermeidet das Pathos der Besonderheit – vielleicht ist darin eine Assimilierung an amerikanische Mentalität zu entdecken.“
Murnau selbst wünschte sich eine „neue Kino-Optik“ für virtuelle Filmräume folgendermaßen: Ein „frei sich im Raum bewegender Aufnahmeapparat“ sei „während des Drehens zu jeder Zeit, in jedem Tempo, nach jedem Punkt zu führen. Der Apparat, der die Filmtechnik überwindet, indem er ihren letzten künstlerischen Sinn erfüllt. Mit diesem Werkzeug ausgerüstet, werden sich neue Möglichkeiten erst erfüllen lassen, deren stärkste der Architekturfilm ist. Die fließende Architektur durchbluteter Körper im bewegten Raum, das Spiel der auf- und absteigenden und sich wieder lösenden Linien, der Zusammenprall der Flächen, Erregungen, Ruhe, Aufbau und Einsturz, Werden und Vergehen eines bisher nicht erahnten Lebens, die Symphonie von Körpermelodie und Raum, Raumrhythmus, das Spiel der reinen, lebendig durchfluteten, strömenden Bewegung. Mit diesem mechanisch erst entmaterialisierten Apparat wird es sich gestalten lassen.“
Als Mise en Scène wird im Film die Gesamtheit aller momentan im Bild sichtbaren Personen und Objekte bezeichnet. Der Begriff Mise en Scène stammt eigentlich aus dem französischen Theater und bedeutet wörtlich übersetzt in etwa „in Szene setzen”. Er weist darauf hin, dass alles, was der Zuschauer später zu sehen bekommt, vorab sehr sorgfältig geplant werden muss. Die Mise en Scène wird im Film bestimmt und begrenzt durch den Bildrahmen, der in der Fachsprache auch Kader genannt wird. Im Moment der Dreharbeiten wählt der Regisseur den Bereich des Schauplatzes und der Handlung aus, der später im fertigen Film in einer Einstellung zu sehen sein soll. Wird dieser Bildbereich während des Drehens geändert, zum Beispiel durch einen Zoom oder eine Veränderung der Neigung oder der Position der Kamera, nennt man diesen Vorgang Rekadrierung.
Ein Film ist in erster Linie ein visuelles Medium, das seine Wirkung auf den Zuschauer über Bilder und Bildfolgen entfaltet. Der Einfluss des Gesehenen ist dabei oft unterschwellig und lässt sich auf die Schnelle nur selten auf bestimmte Einzelheiten zurückführen. In solchen Fällen bietet sich eine Kompositionsanalyse an, also eine systematische Untersuchung des formalen Bildaufbaus.
Bei einer Kompositionsanalyse müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden:
Die Ausnutzung des Raums (Raumkomposition), also die Anordnung aller Objekte und Personen in der Breite, der Höhe und der Tiefe. Kompositionen können zum Beispiel in Bezug auf ihre räumliche Tiefe oder Untiefe unterschieden werden. Beide Begriffe bezeichnen einen eigenen filmischen Stil. Tiefe bedeutet, dass sich wichtige Objekte und Personen auf allen Bildebenen (Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund) befinden, zum Teil mit sehr großem Abstand zueinander. Häufig zeichnen sich solche Einstellungen durch eine hohe Tiefenschärfe aus, was bedeutet, dass auch Objekte, die weit im Hintergrund liegen, scharf abgebildet werden. Untiefe meint Einstellungen, die sehr flach erscheinen, sodass dem Protagonisten nur wenig Bewegungsspielraum entlang der Tiefenachse zur Verfügung steht.
Darüber hinaus kann die generelle Anordnung und Positionierung wichtiger und unwichtiger Bildbestandteile untersucht werden. Unterschieden werden in diesem Zusammenhang der positive Raum und der negative Raum. Als positiver Raum werden Bildbereiche bezeichnet, die mit den wichtigsten Bildelementen (dem eigentlichen Motiv) gefüllt sind. Meist handelt es sich dabei um den oder die Protagonisten der Szene. Der negative Raum beschreibt dementsprechend Bildbereiche, die weitgehend leer sind (Abb. 4). Leere Bildbereiche dienen oft dazu, die Bedeutung der gefüllten Bildbereiche zu betonen. Ist der negative Raum besonders auffällig, kann es sein, dass er innerhalb der Handlung (u. U. erst später) eine wichtige Rolle spielt.
Die Richtungstendenz ist die Richtung, in die ein bestimmtes Bildelement zu streben scheint. Meist handelt es sich hierbei um Objekte oder Personen, die sich innerhalb des Bildes in eine bestimmte Richtung bewegen. Allerdings können auch statische Bilder eine Richtungstendenz aufweisen. Häufig sind es dann Linien, zum Beispiel Teile der Kulisse oder Lichtstrahlen, die wie Vektoren wirken und in eine bestimmte Richtung weisen.
Linien und Formen (Dreiecke, Rechtecke und Kreise) gehören zu den elementarsten Mitteln der visuellen Gestaltung. Jedes Bild lässt sich grob in seine geometrischen Bestandteile zerlegen. Durch das Nachzeichnen der wichtigsten Linien und Formen lässt sich das zugrundeliegende Kompositionsschema erfassen.
Oft weisen einzelne Bildelemente (zum Beispiel Gebäude oder Teile der Landschaft, wie etwa Berge) schon eine bestimmte Form auf („explizite” Linien und Formen). Linien und Formen können aber auch indirekt („gedachte” Linien und Formen), durch die Kombination mehrerer Bildelemente, entstehen. So ergeben sich dreieckige oder rechteckige Formen oft durch Leerräume zwischen Objekten oder indem mehrere Linien sich kreuzen (Abb. 3 und 4).
Wenn Linien das Bild horizontal oder vertikal durchqueren, kann es sein, dass sie das Bild in mehrere Segmente teilen (Abb. 3). Vertikale Linien vermitteln manchmal den Eindruck von Höhe. Viele vertikale Linien in einem Bild können ein Bild sehr flach erscheinen lassen. Ausgeprägte horizontale Linien, zum Beispiel eine gut sichtbare Horizontlinie, kann einem Bild einen friedvollen Charakter verleihen. Besteht ein Bild aus vielen rechteckigen Formen wirkt es oft künstlich und abstrakt. Eine oder mehrere Personen sind häufig so positioniert, dass sich eine Dreieckskomposition ergibt (Abb. 4), hierdurch kann der Eindruck von Zusammenhalt oder Einheit entstehen. Kreise und Ellipsen wirken meist eher organisch und harmonisch.
Abb. 3: Die dicke Strebe in der Bildmitte teilt das Bild
sichtbar in zwei Hälften. Durch die kleineren Fensterstreben
entsteht der Eindruck eines Rasters, innerhalb dessen den
Protagonisten durch ihre Platzierung im Vorder- bzw. im
Hintergrund ein fester Bereich zugeordnet werden kann.
Der letzte Mann, TC: 00:19:53
Abb. 4: In einer Baracke sucht Gretchen Schutz vor Schnee
und Kälte. Ganz in der vordersten (hintersten) Ecke kauert
sie, mit ihrem Kind im Arm, in klassischer Dreieckspose
(positiver Raum). Die Sparren des zerstörten Daches und
die Konturen des Gebäudes bilden eine Art schützendes
Gewölbe. Der runde Eingangsbereich (negativer Raum) ist
unverschlossen und erinnert an den Eingang einer Höhle.
Faust, TC: 01:31:00
Sunrise (1927), TC: 00:04:06 - 00:05:15