Die verschiedenen Kameraperspektiven beschreiben den Winkel, aus der die Kamera das Motiv filmt. Weil jede Kameraperspektive andere optische Verzerrungen zur Folge hat, kann ein Motiv aus verschiedenen Perspektiven gefilmt, sehr unterschiedlich wirken. Die fünf wichtigsten Kameraperspektiven sind die extreme Aufsicht (Vogelperspektive), die Aufsicht, die Normalsicht, die Untersicht und die extreme Untersicht (Froschperspektive). Ein Sonderfall ist der sogenannte gekippte Winkel, bei dem die Kamera seitlich gekippt wird. Oft werden gekippte Winkel mit anderen Kameraperspektiven kombiniert.
Extreme Aufsicht (Vogelperspektive): Die Kamera ist direkt oder annähernd direkt über dem Motiv platziert. Aufnahmen aus der Vogelperspektive können sehr abstrakt wirken, weil sie die Bestandteile des Motivs auf wenige geometrische Formen reduziert. So wirkt eine Menschenansammlung, die aus großer Höhe aufgenommen wurde, wie eine Häufung farbiger Punkte; einzelne Personen lassen sich in der Regel nicht identifizieren. Extreme Aufsichten können dazu genutzt werden, den Zuschauer vom Geschehen zu distanzieren oder ihm einen Überblick über den Schauplatz zu verschaffen.
Aufsicht: Die Kamera filmt ein Motiv aus einer Position, die oberhalb der Augenhöhe einer Person liegt. Aufsichten erzeugen optische Verzerrungen, bei denen der obere Teil eines Motivs groß, sein unterer Teil hingegen klein wirkt. Eine aus dieser Perspektive aufgenommene Person erscheint hierdurch kleiner als sie in Wirklichkeit ist und wirkt oft besonders hilflos oder verletzlich, während der Zuschauer aus einer privilegierten Position auf sie herabblickt.
Augenhöhe/Normalsicht: eine Einstellung, die aus Augenhöhe aufgenommen wurde. Häufig lässt sich die Normalsicht daran erkennen, dass die Horizontlinie im Bild auf Augenhöhe der im Bild zu sehenden Person verläuft. Einstellungen aus Augenhöhe wirken relativ neutral und vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, sich auf einer Ebene – also sprichwörtlich auf „Augenhöhe” – mit dem Protagonisten zu befinden.
Untersicht: Die Kamera filmt ein Motiv aus einer Position, die unterhalb der Augenhöhe einer Person liegt. Untersichten erzeugen optische Verzerrungen, die den unteren Teil eines Motivs besonders groß, den oberen Teil hingegen kleiner und verkürzt erscheinen lassen. Personen, die aus dieser Perspektive gefilmt werden, wirken oft riesenhaft und mächtig und scheinen sich über den Betrachter zu erheben. Besonders Gesichter können aus dieser Perspektive sehr bedrohlich wirken.
Extreme Untersicht (Froschperspektive): eine Perspektive, bei der die Kamera auf sehr niedriger Position in Bodennähe angebracht ist. In manchen Fällen ist die Kamera sogar in den Boden eingelassen oder an einem Platz unterhalb der gezeigten Person positioniert (z. B. wenn die Kamera am unteren und die Person am oberen Ende einer Treppe platziert ist). Diese Kameraperspektive überhöht die Größe und Bedeutung des Motivs so sehr, dass die Umgebung fast bedeutungslos erscheint. Für gewöhnlich zeigt die extreme Untersicht deshalb große Macht und Bedrohung an.
Friedrich Wilhelm Murnau stand, vor allem am Anfang seiner Karriere als Filmschaffender, in der Tradition des expressionistischen Films (auch: Deutscher Expressionismus), einer Filmbewegung, die besonders von der expressionistischen Malerei beeinflusst war und starke Kontraste in der Beleuchtung, extrem verzerrte Kulissen und eben auch extreme Kameraperspektiven als Stilmittel einsetzte.
Folgt man Murnaus Sichtweise, dienen Kameraperspektiven aber keinesfalls einem Selbstzweck:
„They say I have a passion for camera angles. But I do not
take trick scenes from unusual positions just to get startling
effects. To me the camera represents the eye of a person,
through whose mind one is watching the events on the
screen. It must follow characters at times into difficult
places […] whirl and peep and move from place to place as
swiftly as through itself […] I think the film of the future will
use more and more of these camera angles, or as I prefer
to call them these dramatic angles. They will help to photograph
thought.”
(Cristina Massaccesi (2015): Nosferatu – A Symphony of Horror, S. 88)
Abb. 1: Diese extreme Aufsicht aus Faust – eine deutsche Volkssage (1926) zeigt eindrucksvoll die Leiden der von einer Pestepidemie gezeichneten Bevölkerung. TC: 00:26:24
Abb. 2: Durch die starke Untersicht wirkt Mephisto besonders furcherregend. Ebenfalls aus Faust – eine deutsche Volkssage (1926), TC: 00:55:18
Nosferatu (1922), TC: 00:58:42-01:01:55