I Die Entfesselung der Kamera

Die entfesselte Kamera wurde mit Murnaus Film Der letzte Mann und seinem Kameramann Karl Freund weltberühmt. Der hatte den relativ leichten „Stachow-Filmer“ zwar nicht erfunden, aber professionell ausprobiert und perfektioniert. Er ersetzte die Kurbel durch eine motorgetriebene Schwungscheibe und ließ sie – ausbalanciert von Gewichten – mit Hilfsmitteln wie (Feuerwehr-)Leitern, Kränen, Rädern, Schienen oder Seilen „fliegen“ – wobei er sich den „Filmer“ teilweise selbst vor die Brust schnallte.

Eine Filmkamera war in den frühen Jahren des Kinos ein schweres Monstrum auf einem fast unbeweglichen Stativ. Zunächst konnte sie das (bewegte) Geschehen nur starr von einer Position aus aufnehmen. Später ließ sich die Kamera zumindest auf dem Stativ schwenken, heben oder senken. Vergleicht man Nosferatu (1921/22) mit dem zwei Jahre später gedrehten Film Der letzte Mann, ist der bahnbrechende Unterschied erst richtig zu erkennen: Kameramann Karl Freund und Murnau haben die Kamera erstmals konsequent und ausgiebig „entfesselt“, also losgebunden vom Stativ und in Bewegung gesetzt, sogar zum Fliegen gebracht – was damals auch eine Emanzipation des Films gegenüber dem Theater und dem gesprochenen Text bedeutete. Die entfesselte Kamera verfolgte in flotter Fahrt Personen und Objekte, umkreiste sie und verschmolz mit den Blicken der Protagonisten. Aus der Frosch- wie aus der Vogelperspektive beschreibt diese Kamera Über- und Unterlegenheit, soziale Stellung, Hochmut, Eitelkeit und seelisches Zerstörtsein. Auf diese Weise wurde sie tatsächlich zum von Murnau geforderten „Zeichenstift“, der Gesichter bis in die kleinste Regung durchforschen und ihre seelische Verfassung (oder auch ihren Alkoholpegel) ausdrücken konnte. Murnau schrieb: „Ich wollte, dass die Kamera Schatten von Gefühlen zeigt, die völlig neu und unerwartet sind: In jedem von uns ist ein unbewusstes Selbst, das in einer Krise ausbrechen kann, auf die seltsamste Weise …“

„Erfindet bitte etwas Neues, auch wenn es verrückt sein sollte“, hatte Ufa-Produzent Erich Pommer Murnau und seinem Team aufgetragen. Die ließen sich nicht lange bitten und feierten 180 Drehtage lang ihre Freiheit zum unbegrenzten Experimentieren, „wie unter Jungen, die etwas abkarten oder anstellen und sich spitzbübisch schon auf die Wirkung der Betroffenen freuen“, so erzählte es später Filmarchitekt Robert Herlth. Kameramann Karl Freund hatte die mit ihm berühmt gewordene „entfesselte Kamera“, den technisch gesehen relativ leichten „Stachow-Filmer“, zwar nicht erfunden, aber professionell ausprobiert und perfektioniert. Er ersetzte die Kurbel durch eine motorgetriebene Schwungscheibe und ließ sie – ausbalanciert von Gewichten – mit Hilfsmitteln wie (Feuerwehr-)Leitern, Kränen, Rädern, Schienen oder Seilen „fliegen“ – wobei sich Freund den „Filmer“ teilweise selbst vor die Brust schnallte.

Der Kritiker Willy Haas schrieb dazu: „Da turnt vor allem der wohlbeleibte Herr Freund, unser deutscher Meisteroperateur. Im Schweiße seines Angesichts. Denn nicht nur sein stattliches Embonpoint belastet ihn, sondern ein ganzes Riemen- und Schnallenwerk um seinen Körper, das ein Holzgestell festhält, und in dieses Holzgestell hineinmontiert – der Aufnahmeapparat. Also ein rennender, schwebender, pirouettierender, sich verbeugender Apparat.“ Seine Kollegin Frieda Grafe ergänzte später: „Wie ein Geschoss bewegte er sich … Seine Kamera ist Auge und Körper, die eintauchen in die Darstellungsmaterie und sie von innen und außen erfahren lassen“.

Filmhistorische Bedeutung hat bereits die vertikale Sequenz am Anfang des Films gewonnen, mit der wir uns der Hotellobby nähern: Die Kamera fährt im transparenten Aufzug an der Hinterwand der Lobby hinunter und blickt durch das Gedrängel in Richtung Drehtür. Schnitt. In der zweiten Einstellung beherrschen die schwingenden Flügel der Drehtür das Bild und lenken den Blick auf die Großstadt im Regen draußen und die Menschen, die in schneller Folge hinaus- und hineingehen. Erst dann entdecken wir den Portier. So wird die Kamera zum allgegenwärtigen Erzähler, der uns den „Helden“ wortlos näherbringt. Auch als glücklichen Erben eines Millionenvermögens entdecken wir ihn im überraschenden zweiten Teil des Films erst am Ende einer Plansequenz: Die Kamera gleitet an einer langen Reihe von Restaurantgästen vorbei, die lachend von der Erbschaft lesen und sich die Zeitung weiterreichen. Sie fährt um eine Ecke, vorbei an weiteren Gästen und zusammenstehenden Kellnern und stoppt vor einer riesigen Torte, hinter der der strahlende, nun bestens gekleidete und frisierte Ex-Portier sichtbar wird.

Den berühmten fliegenden Ton der Trompete erklärte Robert Herlth folgendermaßen:
„Auf dem Gelände in Babelsberg, wo der Hinterhof gebaut war, wird vom Fenster des ersten Stockwerks bis zum Fenster des Erdgeschosses ein sogenannter Gitterträger gehängt und die Kamera in einen Fahrkorb montiert, der (auf Schienen hängend) quer über den ganzen Hof in etwa 20 Meter Distanz schräg abwärts fährt: vom Ohr des schlafenden Jannings bis zur Öffnung der Trompete. Die optische Demonstration eines Tones entstand hier zwar aus dem Mangel, den der stumme Film hatte, doch wurde damit nicht die filmische Wirkung um so viel mehr bereichert als etwa nur durch einen simplen Trompetenstoß?“

Murnau, Freund, Herth, sein Kompagnon Walter Röhrig und Hauptdarsteller Emil Jannings gewannen mit ihrem so innovativen Letzten Mann auch internationale Bekanntheit; sie alle waren wenig später erfolgreich in den USA tätig. Doch Karl Freund arbeitete nur noch im folgenden Jahr mit Murnau für Tartüff zusammen. Robert Herlth und Walter Röhrig schufen auch „Bauten, Landschaften und Kostüme“ für Faust. Drehbuchautor Carl Mayer schrieb später für Murnau das Skript zu Sunrise.

Filmausschnitt 1: Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat, Auguste und Louis Lumière, 1896

II Film ist Bewegung

Das entscheidende Merkmal, das den Film von der Fotografie unterscheidet, ist die Bewegung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tüftelten gleich mehrere Fotografen und Erfinder an der technischen Umsetzung der Idee, in sehr schneller Folge Bilder aufnehmen und hintereinander abspielen zu können.

Zu den ersten Pionieren der Filmtechnik gehörten die Brüder Max und Emil Skladanowsky und die Brüder Auguste und Louis Lumière. Sie entwickelten unabhängig voneinander in Deutschland und in Frankreich Geräte, mit denen ab 1895 erstmals Filmaufnahmen einem Publikum öffentlich vorgeführt werden konnten. Während die Lumières ihrem Publikum dokumentarische Aufnahmen von Alltagssituationen präsentierten, zum Beispiel die Einfahrt eines Zuges im Bahnhof des französischen Städtchens La Ciotat (siehe Film 1), zeigten die Skladanowskys den Zuschauern eine Zusammenstellung akrobatischer und artistischer Darbietungen, zum Beispiel den Boxkampf mit einem Känguru und eine Jonglagevorführung. Gemeinsam war allen Aufnahmen, dass sie von einem festen Standort aus gefilmt wurden und sich die Kamera selbst noch nicht bewegte. Es handelte sich somit durchgehend um sogenannte statische Einstellungen.

Statische Einstellung


Erst im Laufe der Zeit wurden Möglichkeiten entwickelt, auch die Kamera in Bewegung zu versetzen. Einen Meilenstein in diesem Prozess setzte Murnau mit seinem Film Der letzte Mann von 1924, der berühmt wurde für seine sogenannte „entfesselte Kamera”.

Zwar hatten schon zuvor Filmemacher die Kamera von ihrem Stativ gelöst, neu war aber die Vielfalt verschiedener und auch ungewöhnlicher Bewegungen (z. B. durch die Luft) und die Leichtigkeit, mit der Murnaus Kameramann Karl Freund die Kamera durch den Raum navigierte. Zudem ließ er die Kamera eine Art Eigenleben entwickeln, was die Zuschauer in die Lage versetzte, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren. Die Erzählweise war nun nicht länger objektiv und neutral, sondern in die Handlung eingebunden und unterschiedlich subjektiv.

Abb. 2: mögliche Bewegungen der Kamera auf einem Stativ

Abb. 2: mögliche Bewegungen der Kamera auf einem Stativ

III Filmsprachliche Grundlagen

Kamerabewegungen

Man unterscheidet drei verschiedene Typen von Kamerabewegungen.

  1. Fixierte Kamera: Alle Bewegungen, bei denen die Kamera fest auf ihrem Stativ montiert ist (siehe Abb. 1). Hierzu gehören der Schwenk (Drehbewegung auf einer horizontalen Achse), die Neigung bzw. das Kippen (Bewegung auf der vertikalen Achse) und die Rotation (Bewegung entlang einer gedachten Linie zwischen dem Objektiv der Kamera und dem gefilmten Objekt).

Schwenken     Neigen/Kippen     Rotieren

  1. Mobile Kamera: Bewegungen, bei der die Kamera vom Kameramann oder unter Verwendung spezieller technischer Hilfsmittel durch den Raum bewegt wird.

Handkamera     Steadicam

Kamerafahrt     Verfolgungsfahrt     Kreisfahrt    

Kran     Luftbild

  1. Die sich scheinbar bewegende Kamera mittels einer Veränderung der Brennweite, wie sie mit Zoomobjektiven realisiert werden kann. Da Vorläufer von Zoomobjektiven erst Ende der 1920er Jahre aufkamen, spielen diese bei der Betrachtung von Murnaus Filmen noch keine Rolle.

Heranzooomen     Herauszoomen

Erzählperspektiven

Jede Geschichte, egal ob gesprochen, geschrieben oder gefilmt, wird aus einer bestimmten Erzählperspektive vermittelt:

  1. Ich-Erzähler: Eine Figur erzählt die Geschichte aus ihrer ganz persönlichen Sicht.

  2. Auktorialer Erzähler: Der Erzähler selbst ist nicht Teil der Geschichte. Er kennt alle Personen und weiß über alle Ereignisse Bescheid.

  3. Personaler Erzähler: Der Erzähler ist selbst nicht Teil der Geschichte. Sein Kenntnisstand gleicht aber dem der Person(en), aus deren Sicht er gerade erzählt.

Arten der Kameraführung

Die Inszenierung der Erzählperspektiven erfolgt durch verschiede Arten der Kameraführung:

  1. Objektive Kamera: Die Kamera zeigt das Geschehen von einem neutralen Standpunkt aus und zieht selbst keine Aufmerksamkeit auf sich.

  2. Subjektive Kamera: Die Kamera scheint unmittelbar und nah am Geschehen beteiligt. Kamerabewegungen, zum Beispiel Schwenk- oder Kippbewegungen, imitieren menschliche Bewegungsabläufe und vermitteln dem Zuschauer das Gefühl, selbst in die Handlung involviert zu sein.

  3. Allwissende Kamera: Die Kamera „weiß” über die gesamte Handlung und sogar über zukünftige Ereignisse Bescheid und macht dies auch deutlich, zum Beispiel indem sie teilweise der Handlung vorausgreift, etwa durch einen vorzeitigen Wechsel ihres Standorts oder der Perspektive.

  4. Subjektive Einstellung: Eine Einstellung, bei der die Kamera den Blick des Protagonisten einnimmt.

Objektive Kamera     Subjektive Kamera     Allwissende Kamera     Subjektive Einstellung

1. Kamerabewegungen

Im Folgenden finden Sie sechs Filmausschnitte aus dem Film Der letzte Mann.

  1. Entnehmen Sie von jedem Video ein aussagekräftiges Standbild, indem Sie auf das Kamera-Icon tippen, und legen Sie es auf der Arbeitsfläche im dazugehörigen Feld ab.

  2. Bestimmen Sie die Art der Kamerabewegungen, indem Sie den oder die passenden visuellen Marker zuordnen.

  3. Beschreiben Sie im zugehörigen Textfeld knapp, welche Stimmung oder Atmosphäre die Bewegung unterstützt bzw. produziert.

  4. Bestimmen Sie mithilfe der visuellen Marker, ob es sich um eine objektive, eine subjektive, eine allwissende Kamera oder um eine subjektive Einstellung handelt. Sichern Sie Ihr Ergebnis als Bildschirmfoto.

Ausschnitt 1: Der letzte Mann (1922) TC: 00:01:47 – 00:02:00

Ausschnitt 2: Der letzte Mann (1922) TC: 00:26:07 – 00:26:27

Ausschnitt 3: Der letzte Mann (1922) TC: 00:30:30 – 00:31:23

Ausschnitt 4: Der letzte Mann (1922) TC: 00:32:54 – 00:33:21

Ausschnitt 5: Der letzte Mann (1922) TC: 00:56:20 – 00:56:36

Ausschnitt 6: Der letzte Mann (1922) TC: 01:05:42 – 01:06:12



Kamerabewegung
Erzählperspektive

2. Der fliegende Ton

In dem folgenden Filmausschnitt hat Karl Freund die Entfesselung seiner Kamera auf die Spitze getrieben und gleich mehrere Kamerabewegungen miteinander kombiniert. Die Kamerabewegungen lassen sich nur schwer den üblichen Kategorien zuordnen.

  1. Insgesamt gibt es drei verschiedene Kamerabewegungen in dem Ausschnitt. Arbeiten Sie diese heraus, indem Sie mithilfe des Ausschneidewerkzeugs so viele Standbilder entnehmen, wie nötig sind, um die Bewegungen nachzuvollziehen. Zeichnen Sie mithilfe der Pfeile ein, in welche Richtung(en) die Kamera sich bewegt.

  2. Notieren Sie in den Notizkärtchen, welcher Eindruck mithilfe der jeweiligen Bewegung vermittelt werden soll. Sichern Sie Ihr Ergebnis als Bildschirmfoto.

  3. Stellen Sie Vermutungen an, wie Karl Freund die verschiedenen Kamerabewegungen technisch umgesetzt haben könnte. Berücksichtigen Sie dabei, dass es zur der Zeit, als der Film produziert wurde, noch keine speziellen technischen Hilfsmittel gab, die genau für diese Art der Kameraführung gedacht waren. Schreiben Sie Ihre Überlegungen in das Notizfeld.



Der letzte Mann (1922) TC: 00:38:36 – 00:40:20

Pfeile
Textkärtchen